Lyrische Beobachtungsstelle

On swift horses: Re-Animierung von Verlorenem | Von Paul Clemente

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“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Ein Mensch des Mittelalters starb exakt in der Welt, in die er hineingeboren wurde. Der kulturelle Horizont hatte sich keinen Millimeter verschoben: Das selbe Weltbild, dieselbe Mode, der gleiche Baustil und so weiter. Und wenn es darin leichte Veränderungen gab, nahm lediglich die Aristokratie sie wahr. Nur ein Mini-Bruchteil der Bevölkerung. Das Gros lebte in Zeitlosigkeit. Und im Jahr 2025? Da wechseln Stil und Diskurse alle fünf Jahre. Der Zeitgeist braust mit Bleifuß auf dem Gaspedal. Man schaue sich Lichtbilder der letzten hundert Jahre an. Filme, ob fiktional oder dokumentarisch, sind Speicher von Entsorgtem. Wer frühere Kinostreifen sieht, glaubt sich in eine andere Welt versetzt. In fast jeder Hinsicht. Allerdings werden alte Filme wenig goutiert. Ihr Tempo, der Schnitt-Rhythmus ist dem Gegenwartspublikum zu langsam. Aber auch heutige Kostümfilme können kulturelle Irritation auslösen, sofern sie ihr historisches Ambiente ernst nehmen.

Es bedarf keiner Zeitreise in die Antike, ins Mittelalter oder Rokoko. Schon wenige Jahrzehnte reichen aus. So ein Kinostreifen ist aktuell das Hollywood-Melodram „On swift Horses“. Schon sein Genre liegt außerhalb der Zeit. Hollywood dreht fast keine Melodramen mehr. In US-Kinos schwadroniert kaum noch jemand von großer Liebe. Das Begehren, das alle Hindernisse übersteht, das man mit traurigem Soundtrack unterlegt – es scheint verschwunden. Filme wie „Vom Winde verweht“, „Dr. Schiwago“ oder „Titanic“ – die passen nicht zum Tinder-Dating oder in Beziehungskisten, die nach zwei Wochen einer Therapie bedürfen. In aktuellen Liebesfilmen wie „Beating Hearts“ erinnert lebenslange Leidenschaft eher an eine Zwangsneurose. An etwas, wogegen man Tabletten schlucken sollte. Und doch ist das Melodram nicht gänzlich tot. Es ist lediglich von den Heteros zur LGBTQ-Kultur abgewandert. So im französischen „Porträt einer jungen Frau in Flammen“: Darin wird eine Malerin mit dem Porträt einer Aristokratentochter beauftragt. Schon bald funkt es zwischen beiden. Oder ein aktuelles Beispiel: „On swift Horses“.

Ein Film, der ins Ami-Land der Fünfziger entführt: Der Soldat Lee hat seinen Einsatz im Korea-Krieg beendet. Gemeinsam mit seiner Verlobten Muriel plant er den Umzug zur sonnigen Westküste, nach Kalifornien. Da taucht sein Bruder Julius auf. Der ist das Gegenteil zum soliden Lee: Abenteurer und Glücksspieler. Ein wandelndes James Dean-Zitat. Natürlich fühlt sich Muriel zu ihm hingezogen, entdeckt die eigene Lust an Pferdewetten. Trotzdem bleibt sie ihrem aufgeräumten Verlobten treu. Bald flüchten Julius und Muriel in gleichgeschlechtlichen Beziehungen: Julius mit einem Compagnion in Las Vegas und Muriel mit ihrer Nachbarin Sandra. Im Finale finden sie dennoch zusammen: Julius reitet auf seinem Pferd zu ihrem Haus... Auch wenn zuletzt die Heterosexualität siegt, die Homosexualität sich auf Seitensprünge begrenzt: „On swift Horses“ ist ein Queer-Melodram. Zwei der drei Hauptcharaktere sind bisexuell. Auf purer Cis-Ebene wäre der Film nie entstanden. Ähnlich steht es um die Institution Ehe: Während Heterosexuelle kaum noch daran glauben, kämpfen homosexuelle Paare in vielen Ländern um das Recht auf Heirat. Die Übernahme verbrauchter Hetero-Mythen durch die Queer-Szene deutet vor allem auf eins: Die haben ihre Desillusionierung noch vor sich.

Kommen wir nun zu den Retro-Elementen, die „On swift horses“ transportiert. Die den Zeitpunkt der Handlung, den Zeitgeist der frühen Fünfziger reflektieren. Dazu zählt auch damalige Naivität gegenüber Kernwaffen. In einer Szene rennen die Einwohner von Las Vegas zusammen, um das pittoreske Schauspiel eines gelborangen Atompilzes zu bestaunen. Zufällig liegt nämlich das Testgelände nahe der Wüstenstadt. Diese Naivität ist leider authentisch: So wurde 1956 in einem Atomtestgebiet des Bundesstaates Utah ein Historienfilm über Dschingis Khan gedreht. Titel: „Der Eroberer“. Ein Vierteljahrhundert später waren 91 Mitglieder der 220-köpfigen Crew an Krebs erkrankt – und 46 bereits gestorben. Unter ihnen: Hauptdarsteller John Wayne. Dennoch sollte man sich rückblickend jede Arroganz untersagen. Wahrscheinlich hatten damals irgendwelche „Experten“ grünes Licht geben. Motto: Alles halb so wild. Diese Naivität der Fünfziger gegenüber Radioaktivität ist vergleichbar mit der aktuellen Bereitschaft, sich gänzlich unerprobte mRNA-Impfstoffe in die Vene zu jagen. Oder die Naivität jener, die einen neuen Krieg zwischen Russland und Westeuropa für gewinnbar halten – ohne Totalverstrahlung.

A propos Gesundheit: Ein weiteres Dauerthema in „On swift Horses“ ist das Rauchen. Nicht, dass es angesprochen würde. Dafür war es damals zu normal. Inzwischen ist der blaue Dunst so weit aus dem öffentlichen Leben verbannt, dass sofort auffällt, wenn in fast jeder Szene gequalmt wird. Wann hat man das zuletzt gesehen?! Als deutlicher Wendepunkt der cineastischen Rauchkultur lassen sich die Neunziger ausmachen. Damals wurde US- Schauspielerin Winona Ryder angemault, weil ihr nie die Kippe ausging. Als sie die Proteste souverän überhörte, warf man ihr Ignoranz vor. Aber auch in Europa hat sich eine Nichtraucherkultur etabliert. Eine Selbstbeschreibung der französischen Schauspielerin Emmanuelle Beart von 1993 - „Ich rauche, ich saufe.“ - wäre heute skandalös. Dabei galt vor hundert Jahren, in den 1920ern, das Rauchen als Emanzipationssymbol für Frauen. Vielleicht ein weiterer Grund, weshalb die Nazis den blauen Dunst abschaffen wollten. In deutschen Filmen jener Zeit ist die Kippe erstaunlich selten. Lediglich der Krieg hinderte die braunen Machthaber am Nichtraucherdiktat: Man wollte dem zweibeinigen Kanonenfutter die Laune nicht  noch mehr vermiesen.

In Neuseeland ist der Verkauf von Tabak bereits für nachfolgende Generationen verboten. Und Frankreich hat den blauen Dunst aus der Öffentlichkeit verbannt, nur noch in der eigenen Matratzengruft gestattet. Genau das wollen die Grünen aktuell für Deutschland. Zeitgleich mit dem Kinostart von „On swift horses“ forderte der grüne Gesundheitssprecher Janosch Dahmen: Wer Kinder schützen wolle,

„muss ihre alltägliche Umgebung rauchfrei machen: Parks, Spielplätze, Schwimmbäder, aber auch Eingänge zu Schulen und Sportstätten gehören dazu.“

Wer die kulturelle Bedeutung von Details wie Zigaretten kleinreden möchte, der sei gefragt: Was wäre denn, wenn Humphrey Bogart sich keine Kippe, sondern eine E-Zigarette angezündet und Ingrid Bergman in „Casablanca“ damit zugedampft hätte? Oder: Wenn er Lauren Bacall kein Feuer gereicht hätte, sondern ein Liquid-Fläschchen? Oder: Wenn sie ihn via iPhone kontaktiert hätte? Wenn er ihr nach dem Yoga in einer veganen Salatbar begegnet wäre? Oder kommen wir auf Sie, werte Hörer, zu sprechen: Wie oft hat Ihnen eine Kippe die Kontaktaufnahme erleichtert? Nein, kein Kulturkampf, keine Neuerung ist nur pragmatisch zu begründen. Sie beinhaltet auch Zerstörung alter Mythen und Bilder, die sich um die jeweiligen Gebrauchsgegenstände gebildet haben. Und nicht immer finden sie gleichwertigen Ersatz. Manchmal hinterlassen sie sogar ein Vakuum. Es sind Filme wie „On swift horses“ die durch Reanimierung von Vergangenem die Verluste ins Bewusstsein, in die Erinnerung rufen.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Kwadrat/ shutterstock

 

 

 


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