Leider ist es um die Wissenschaftsfreiheit in unserem Land schlecht bestellt – lasst uns das ändern!
Ein Meinungsbeitrag von Christian Kreiß.
Angesichts zunehmender Angriffe der neuen US-Regierung auf die Wissenschaftsfreiheit der US-amerikanischen Universitäten und Bemühungen, auf Druck der Politik an deutschen Hochschulen Zivilklauseln abzuschaffen beziehungsweise für Rüstungszwecke zu forschen, können wir die Frage stellen: Wie frei sind eigentlich die deutschen Hochschulen und Universitäten?
Vom «geistigen Leibregiment des Hauses Hohenzollern» zur «Integritätsprüfung» und «Abwicklung» der DDR-Wissenschaftler 1990: Der bekannte Historiker Heinrich August Winkler beschrieb die Unabhängigkeits-Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin 2009, an der er selbst von 1991 bis 2007 unterrichtet hatte, folgendermaßen:
«Den Höhepunkt ihres weltweiten Ansehens erreichte die Universität um 1900 – just in der Zeit, in der sie nach den berüchtigten Worten des damaligen Rektors 1870 (…) das ‹geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern› sein sollte. Im Ersten Weltkrieg kam dieser Ausspruch der Wirklichkeit nahe. Auch in der Weimarer Republik hätte man die Universität gewiss nicht als liberal bezeichnen können. Die Unterordnung unter die Vorgaben des Nationalsozialismus bis hin zur Vertreibung aller jüdischen und linksstehenden Professoren und Studenten fiel ihr nach 1933 nicht sonderlich schwer. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte bald die Verdrängung aller, die sich gegen das Wissenschaftsverständnis des Marxismus-Leninismus auflehnten.»
1990 begann an den DDR-Universitäten erneut eine massive Bereinigung, die sogenannte «Abwicklung». Unliebige Professoren wurden massenweise aus dem Hochschulsystem hinausexpediert. Kurz nach der Wende begannen sogenannte «Integritätsüberprüfungen», das heißt weltanschauliche, politische Bewertungen der Wissenschaftler. Kurz darauf wurden praktisch alle Hochschullehrerstellen neu ausgeschrieben.
Unter der Überschrift «Purgierung» schreiben die «Blätter für deutsche und internationale Politik» 1991, dass allein zwischen Januar und August 1990 insgesamt 1504 Hochschullehrer in der DDR entlassen wurden, davon lediglich 506 aus dem Bereich Marxismus-Leninismus. «Beseitigt wurden im Kern die sozial-, wirtschafts-, rechts- und geisteswissenschaftlichen Fachbereiche bzw. Institute – vor jeder Evaluation». An der Humboldt-Universität wurden demnach allein 1990 600 Wissenschaftler entlassen.
Wie steht es um unsere Wissenschaftsfreiheit heute?
Werfen wir einen Blick auf unser Wissenschaftssystem heute. Anhand der Fakultät Ökonomie soll dargestellt werden, wie welche Selektionsprozesse ablaufen. Die Prozesse funktionieren allerdings in den meisten anderen Fakultäten ganz ähnlich.
Wie bekommt man heute eine Ökonomie-Professur in Deutschland? Für die Universitäten braucht man in der Regel eine Habilitation, für einen Ruf an eine Hochschule für angewandte Wissenschaften reicht eine Promotion plus fünf Jahre Berufserfahrung.
Wie wird man Doktor?
Wie wird man Doktor in der Ökonomie? Dafür braucht man normalerweise einen Haupt- und einen Zweitbetreuer, zwei habilitierte Universitäts-Professoren, die zwei Gutachten schreiben. Außerdem muss der Promotionsausschuss oder die Fakultät zustimmen. Ist die Dissertation zu Ende, erfolgt die Verteidigung oder Disputation vor Mitgliedern der Fakultät. Kurz: mindestens zwei Menschen, in der Regel aber erheblich mehr, müssen mit den Inhalten der Promotion einverstanden sein bzw. dürfen in den Gremien nicht dagegen stimmen.
Welche inhaltlichen Vorgaben gibt es? Offiziell sind die Inhalte selbstverständlich vollkommen frei wählbar zwischen Promovierendem und Betreuer. Inoffiziell gibt es jedoch ganz erhebliche Nebenbedingungen in der Themenwahl. Denn praktisch allen in der heutigen westlichen Ökonomie verwendeten Modellen, Analysen und Erklärungsansätzen liegt eine relativ kleine Zahl von weltanschaulichen Axiomen zugrunde: Die glorreichen sieben Ökonomie-Axiome.
- Zinseszins ist gut, richtig und wichtig
- Eigentum in beliebiger Höhe ist wichtig und richtig (property rights- Theorie)
- Unternehmen müssen ihre Gewinne maximieren
- Konkurrenz und Wettbewerb sind wichtig und gut
- Unersättlichkeit
- Konsumenten folgen dem Modell des homo oeconomicus, sind rational und maximieren ihren Nutzen (Utilitarismus)
- Die unsichtbare Hand des Marktes sorgt dafür, dass das egoistische Verhalten der einzelnen Marktteilnehmer (Haushalte und Unternehmen) in das Wohl der Allgemeinheit überführt wird
Wissenschaft oder Weltanschauung?
Bei diesen sieben Grundannahmen, auf denen praktisch unsere gesamte Ökonomie-Theorie heute ruht, auf denen all unsere Lehrbücher und wissenschaftlichen Aufsätze aufbauen, handelt es sich nicht um Wissenschaft, sondern um Weltanschauung.
Man könnte beispielsweise auch ganz andere Basis-Annahmen zu Grunde legen. Statt Gier und Unersättlichkeit könnte man beispielsweise als Leitmotiv über die Volkswirtschafts-Lehrbücher den bekannten Satz von Gandhi schreiben: «Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier». Oder Aussagen von Lao Tse:
«Es gibt keine größere Sünde als viele Wünsche, es gibt kein größeres Übel als kein Genüge kennen, es gibt keinen größeren Fehler als haben wollen.»
Dann würden bei unseren Ökonomie-Modellen völlig andere Ergebnisse herauskommen. Statt Konkurrenz und Wettbewerb könnte man auch Kooperation betonen, wie es Christian Felber sehr überzeugend tut. Statt unlimitierter Eigentumsanhäufung könnte man eine Obergrenze für Eigentum einführen. Christian Felber schlägt 10 Millionen Euro vor.
Statt Gewinnmaximierung für private Aktionäre könnte man Genossenschaftsmodelle und gemeinwohlorientierte Stiftungen als Geschäftsmodell für Unternehmen vorschlagen. Oder einfach, wie es Anfang der 1980er Jahre noch üblich war, als ich Ökonomie studiert habe: Dass der Zweck von Unternehmen ist, einfach gute Produkte und Dienstleistungen zu erbringen und nicht die Gewinne zu maximieren.
Statt Zinseszins könnte man die Gedanken von Silvio Gesell unterrichten, dass Geld keinen Zinsertrag bringen darf, sondern sich im Wert systematisch verringert, also Freigeld bzw. Schwundgeld statt unser heutiges Fiat-Geld. Statt Nutzenmaximierung und Utilitarismus, wie sie vor allem der Nobelpreisträger für Ökonomie Gary Becker propagiert, könnte man Rücksichtnahme, Mitleid und Menschlichkeit propagieren.
Kurz: Man könnte zu allen obigen Axiomen im Grunde genommen auch ziemlich genau das Gegenteil annehmen. Denn es handelt sich hier nicht um Wissenschaft, sondern um Weltanschauung, um religiöse oder irreligiöse Grundüberzeugungen.
Bei Verstoß gegen die sieben Axiome keine Wissenschaftskarriere
Wer gegen diese weltanschaulichen Grundannahmen verstößt, bekommt keine Promotion. Ich kenne persönlich zwei sehr kluge Menschen, die in ihren Promotionen Gewinnmaximierung und Zinseszins kritisiert haben. Das Ergebnis: Beide Dissertationen wurden von den Betreuern der Universität abgelehnt. Das war das Ende ihrer Wissenschaftskarriere.
Man wird in Deutschland – und meines Erachtens in den allermeisten anderen westlichen Industrieländern – normalerweise kein Professor der Ökonomie, wenn man auch nur gegen eines der Basis-Axiome verstößt, geschweige denn, wenn man gleich mehrere in Frage stellt. Das heißt, auf unseren Ökonomie-Lehrstühlen landen praktisch ausnahmslos Menschen, die auf die obigen sieben Axiome ausgerichtet sind. Wer anders denkt, bekommt keine Promotion und erst recht keine Habilitation.
Aber die weltanschauliche Schere schneidet schon viel früher die Gedanken im Kopf ab. Selbst eine Master-Thesis oder eine Bachelor-Arbeit, die die obigen sieben Axiome in Frage stellt, sind in unseren heutigen Ökonomie-Fakultäten so gut wie unmöglich.
«Integritätsprüfung» von 1990 besteht fort
De facto findet in unserem heutigen Ökonomie-Wissenschaftssystem unverändert eine «Integritätsprüfung» statt wie 1990 bei den DDR-Akademikern. Wer gegen die sieben Axiome verstößt, ist nicht integer, bekommt keinen Bachelor, keinen Master, keine Promotion und keine Habilitation, wird kein Hochschullehrer.
De facto existiert in Deutschland – und vermutlich den allermeisten anderen westlichen Ländern – keine plurale Ökonomie, keine Wissenschaftsfreiheit in dem Sinne, dass man über seine Forschungsfelder frei entscheiden darf. Sondern die Forschungsgebiete unterliegen strenger weltanschaulicher Vorauswahl.
Staatszwang statt Freiheit der Wissenschaft
Was sind die Ursachen dafür? Der Staatszwang unserer Hochschullandschaft.
- Die Gründung einer Hochschule unterliegt sehr hohen staatlichen Auflagen. Sie muss von der zuständigen Landesbehörde für Wissenschaft und Hochschulen anerkannt werden. Dazu sind zahlreiche Bedingungen zu erfüllen. Unter anderem müssen die neuen Hochschulen akkreditiert werden. Durch die strengen Auflagen ist die Neugründung einer Hochschule in Deutschland fast unmöglich.
- Bestehende Studiengänge müssen regelmäßig akkreditiert werden. Diese Akkreditierungs-Aufgabe übernehmen für den Staat, der inhaltlich die Gegenstände nicht beurteilen kann, Professoren anderer, verwandter Studiengänge von anderen Hochschulen oder externe professionelle Akkreditierungs-Agenturen. Beide, sowohl die Kollegen-Professorinnen oder -Professoren wie die Agenturen, sind auf die sieben Grundaxiome ausgerichtet. Wer gegen eines oder gar mehrere der sieben Grundannahmen verstößt, wird nicht akkreditiert und kann damit nicht (mehr) unterrichten.
Zwischenergebnis
Im Ergebnis zeigt sich: Zu glauben, dass unser Wissenschaftssystem heute freiheitlich und tolerant ist, wäre ein großer Irrtum. Unser derzeitiges, unter staatlicher Aufsicht und staatlichem Zwang stehendes Hochschulsystem führt im Endergebnis zu einer ähnlich gründlichen Eliminierung Andersdenkender wie zu DDR-Zeiten. Nur die Vorgehensweise, die Methoden sind sehr viel subtiler und intelligenter. Missliebige, andersdenkende, kontroverse oder Nicht-Mainstream-Wissenschaftler haben heute in den Ökonomie-Fakultäten keine Chance, die Wissenschaftsleiter hinaufzuklettern.
Wie viele Marxismus-, Gesell-, Dreigliederungs-, Gemeinwohl-Lehrstühle gibt es an unseren Universitäten und Hochschulen? Wirft man den Blick als Insider hinter die Kulissen unserer Hochschulen, zeigt sich, dass unser staatliches Hochschulsystem alles andere als freiheitlich und tolerant ist.
Was tun?
Es wäre ungeheuer leicht und sicherlich sehr viel billiger als das heutige bürokratische und ineffiziente staatliche Hochschulsystem, ein freiheitliches und tolerantes Bildungssystem aufzusetzen. Beispielsweise über Bildungsgutscheine für alle Studierenden: Jeder zu einem Studium qualifizierte junge Mensch bekommt einen monatlichen Bildungsgutschein, beispielsweise in Höhe der derzeitigen tatsächlichen monatlichen Kosten für das Studium, und kann sich damit bei den Universitäten oder Hochschulen seiner Wahl bewerben. Wird er aufgenommen, erhält die Hochschule die Zahlung durch den Gutschein.
Die Gründung von Hochschulen wird entbürokratisiert und vereinfacht. Die Träger der Hochschulen müssen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und dürfen nicht gewinnorientiert arbeiten, sondern beispielsweise als gemeinnützige GmbH oder in einer anderen gemeinnützigen Rechtsform. Wissenschaftsministerien brauchen wir nicht mehr. Das spart Kosten und vor allem eine Unmenge an Bürokratie ein.
Durch Neugründungen von Hochschulen im Zuge des Gutscheinsystems würde das pädagogische und wissenschaftliche Wetteifern der Hochschulen untereinander dafür sorgen, dass sich die besten durchsetzen. Das dürften diejenigen sein, die die besten Hochschullehrer haben und die meisten und besten Bewerber erhalten. Im Laufe weniger Jahre wird sich bei Unternehmen und für den Staatsdienst herausstellen beziehungsweise herumsprechen, welche Hochschulen die geeignetsten Absolventen hervorbringen.
Alle Arten von staatlich verpflichtenden Akkreditierungen – die in der Regel bürokratisch, langwierig, ineffizient und freiheitsberaubend sind – werden überflüssig. Gute, freie Hochschulen werden gute und freie Absolventen hervorbringen, die sich auch im Wirtschaftsleben und im Staatsdienst bewähren werden.
Geben wir unseren jungen Menschen wieder die Chance auf freie, plurale, umfassende, tolerante Bildung! Erziehen wir unsere jungen Menschen zu starken, selbstständig denkenden Menschen! Lasst uns ein unabhängiges, freies und tolerantes Hochschulwesen einführen!
Quellen und Anmerkungen
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Seit 2002 Professor für BWL mit Schwerpunkt Investition, Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von acht Büchern: Das Ende des Wirtschaftswachstums – Die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral (2023); Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Homepage: www.menschengerechtewirtschaft.de.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 30. Mai 2025 auf transition-news.org.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Humboldt-Universität in Berlin
Bildquelle: Digital signal / shutterstock
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